Hier bleibt nichts, wo es war
In einer Stadt, deren Straßen niemals stillstehen, begibt sich die Uhrmacherin Juana auf die unerwartete Suche nach ihrer Werkstatt.
In jener Stadt, die nur die Ältesten noch als Montemuro kannten, wanderten die Straßen mit einer unaufhörlichen Rastlosigkeit, die den Einwohnern längst zur Gewohnheit geworden war. Niemand wusste genau, wann die Straßen begonnen hatten, ihren Platz zu verlassen, doch irgendwann bemerkte man, dass der Platz vor der Kathedrale bei Sonnenuntergang nicht mehr dort lag, wo er noch am Morgen gewesen war. Die Häuser standen plötzlich an neuen Orten, als hätten sie beschlossen, alte Nachbarn gegen neue auszutauschen, und die Wege, die man ging, führten oft in Richtungen, die man nicht geplant hatte.
Die Bewohner hatten jedoch gelernt, sich den Launen der Stadt anzupassen. In der Stille der Nacht durchstreiften Nachtwächter die Straßen, beobachteten, wie sich die Pfade verschoben, und zeichneten frische Karten. Diese Karten wurden bei Sonnenaufgang an den großen Marktplätzen ausgeteilt, damit die Menschen zumindest für den Tag wussten, wohin ihre Schritte sie führen würden. Doch diese Karten waren ebenso flüchtig wie die Wege selbst. Stadtführer, häufig Angehörige alteingesessener Familien, die die Bewegungen der Straßen fast schon vorausahnen konnten, boten ihre Dienste an, um verwirrte Wanderer sicher ans Ziel zu geleiten. Es hieß, dass sich bestimmte Viertel immer wieder neu formten – die Promenade des Stillen Wassers, der Markt der Schatten – und die Bewohner wussten, dass man dort besonders wachsam sein musste. Manchmal veränderten sich nur einzelne Abschnitte: eine Gasse, die plötzlich in einer Sackgasse endete, oder eine Brücke, die über einen ganz anderen Fluss führte. Doch niemand murrte – sie hatten längst gelernt, die Stadt als lebendigen Organismus zu betrachten, der atmete und sich bewegte, wie es ihm beliebte.
Eines Morgens, als die Sonne gerade die Nebelschleier über dem Platz des alten Marktes zerriss, trat Juana Carvajal, die Uhrmacherin, wie gewohnt hinaus, um die Strecke zu ihrem Laden abzuschreiten. Es war ein Weg, den sie seit dreißig Jahren auswendig kannte und der, trotz der wanderlustigen Straßen, sich nie so sehr verändert hatte, dass sie ihn nicht mehr fand. Doch an jenem Morgen war es anders.
Juana trat über die Schwelle, hob den Blick – und sah: Nichts. Nicht die gewundene Straße der Vier Winde, die dort abbiegen sollte, und auch nicht die Apotheke mit den grünen Fensterläden, in denen sich die Sonne stets spiegelte. Stattdessen breitete sich vor ihr ein riesiger Platz aus, ein unbekanntes, weites Nichts, dessen Namen sie nicht kannte, in dem sich die Geräusche der Stadt verloren wie die Wellen eines fernen Ozeans.
Juana blinzelte. Das Ungewohnte an diesem Morgen lag nicht nur im unerwarteten Verlauf der Straßen, sondern auch in der erdrückenden Stille der Stadt. Keine Händler riefen, keine Kinder tollten durch die Gassen, kein Stadtführer bot laut rufend seine Dienste an. Die Uhrmacherin stand allein auf dem fremden Platz und wusste nicht, ob sie träumte oder ob die Stadt sie ausgespuckt hatte.
„Verfluchte Straßen“, murmelte sie und tastete nach ihrer Tasche, in der immer die neueste Ausgabe der Stadtpost steckte – die aktuellste Straßenkarte. Die Karte war von gestern. Dennoch konnte sie sich keinen Reim auf ihren Standort machen. So stark konnte sich die Stadt doch über Nacht nicht verändert haben.
Entschlossen setzte sie sich in Bewegung, durchquerte den Platz, der ihr nun noch weiter erschien, als hätte die Stadt den Raum zwischen ihr und ihrer Vergangenheit gedehnt. Wo war die Gasse der Vier Winde? Wo der Brunnen, der immer nach abgestandenem Wasser stank? Wo war der Aushang der heutigen Stadtpost, die sie so dringend benötigte? Juana lief schneller, ihre Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider, und sie dachte an die Geschichten, die ihr ihre Großmutter erzählt hatte, als sie ein Kind war.
„Die Straßen haben ihren eigenen Willen“, hatte ihre Großmutter gesagt, während sie Juana eine Tasse Maulbeerbaumblättertee einschenkte. „Sie wissen, was wir nicht wissen, und sie bringen uns dorthin, wo wir sein sollen, auch wenn wir es nicht wollen.“ Damals hatte Juana gelacht – schließlich hatte der Mensch die Straßen doch stets überlistet. Aber an diesem stillen Morgen spürte sie, dass die Worte ihrer Großmutter mehr als nur alte Märchen waren. Sie waren eine Wahrheit, die wie Nebel aus dem feuchten Boden aufstieg.
Juana wanderte weiter, vorbei an Häusern, die sie nicht erkannte, an Gärten, die sich unter fremden Himmeln ausbreiteten. Es gab keine vertrauten Ecken, keine Wegweiser. Keine Stadtpost. Sie begegnete Menschen, die sie nicht kannte, doch sie alle hatten den gleichen verlorenen Ausdruck in den Augen, als hätten sie den Boden unter den Füßen verloren. Ein Mann im feinen Anzug starrte ratlos auf einen Briefkasten, und eine alte Frau saß auf einer Bank mitten auf der Straße, als hätte der Weg entschieden, einen Moment innezuhalten.
„Hast du dich auch verlaufen?“, fragte die alte Frau, und Juana erkannte, dass es Dona Clara war, die Bäckerin, deren Brote immer so dufteten, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief.
„Es scheint so“, sagte Juana und ließ sich neben ihr nieder. Die Bank ächzte unter ihrem Gewicht, als wäre auch sie müde vom ewigen Wandern. „Ich finde meine Werkstatt nicht.“
„Ich finde mein Haus nicht“, erwiderte Dona Clara. „Es war noch gestern da, und heute ist es fort. Die Stadt will uns prüfen, das ist es.“
Juana nickte, und sie saßen eine Weile schweigend da, während die Stadt um sie herum leise vibrierte, als bewegte sie sich noch immer, nur langsamer, wie ein Tier, das sich vor der Nacht zum Schlafen legt.
„Vielleicht ist es nur ein schlechter Tag“, sagte Juana schließlich. „Vielleicht finden sich die Straßen morgen wieder.“
Dona Clara lächelte, doch es war ein müdes, blasses Lächeln. „Oder vielleicht haben sie uns einfach vergessen“, sagte sie leise, und ihre Worte hingen schwer in der Luft. „Vielleicht sind wir die, die nicht mehr passen.“
Nach einer Weile des Schweigens stand Juana auf, verabschiedete sich von Dona Clara und machte sich wieder auf den Weg. Sie musste weiter, musste ihren Uhrenladen öffnen. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie ihn finden würde, doch es war besser, voranzugehen, als einfach stehenzubleiben und darauf zu hoffen, dass die Lösung von selbst kam. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und noch immer war keine vertraute Ecke in Sicht.
Sie lief weiter, planlos, wissend, dass sie genauso gut hätte sitzenbleiben und hoffen können, dass die Straßen über Nacht zur Vernunft kämen und alles wieder so war wie zuvor. Oder zumindest fast. Sie lief, bis sie auf einem großen Platz ankam, der anders war als der erste. Auf diesem Platz ragte ein rostrotes schmales Haus über alle anderen hinaus. An seiner Fassade schaukelte ein Schild: La Casa de los Caminantes – das Haus der Wanderer. Juana blieb stehen und betrachtete das Schild, das so verwittert war, dass die Buchstaben kaum noch lesbar waren.
Von Neugier getrieben, klopfte sie an die Tür. Sie öffnete sich lautlos, und Juana trat ein. Der Raum war voller Menschen, die wie sie verloren wirkten. Sie saßen an Tischen, starrten in Tassen mit Kaffee, der nicht mehr dampfte, oder blickten mit fahrigem Blick in alte Karten.
Ein Mann hinter der Theke hob den Kopf, als Juana eintrat. Er war groß, breitschultrig, mit einem Blick, der mehr zu sehen schien als das, was vor ihm lag. „Willkommen im Haus der Wanderer“, sagte er mit einer tiefen, ruhigen Stimme, die klang wie das Murmeln eines Flusses.
„Ich suche nur meinen Laden, meine Straße“, sagte Juana. Der Mann nickte, als hätte er diese Worte schon oft gehört. „Das tun wir alle.“
Juana setzte sich an einen der leeren Tische und ließ den Blick über die anderen schweifen. Da war der Mann im Anzug, der zuvor vor dem Briefkasten gestanden hatte, und da war Dona Clara, die jetzt einen Löffel in einer leeren Schüssel rührte. Sie alle schienen auf der Suche nach etwas, das die Stadt ihnen genommen hatte, und unsicher, ob es sich überhaupt lohnte, weiterzusuchen.
„Die Stadt geht ihre eigenen Wege“, sagte der Mann hinter der Theke. „Und wir, wir folgen ihr. Mehr bleibt uns nicht.“
Juana betrachtete eine alte Stadtpost, die vor ihr auf dem Tisch lag, die Straßen, die sich immer wieder verschoben, wie die Linien auf einem Gesicht, das sich mit der Zeit veränderte. Sie dachte an ihr Geschäft, an die Uhren, die die Zeit maßen, die ihr nun so fremd vorkam. Vielleicht gab es keinen Weg zurück, dachte sie. Vielleicht war dies alles, was übrig blieb: Eine Stadt, die sich ständig bewegte, und Menschen, die ihr nachjagten, ohne zu wissen, warum.
Sie sah in die Gesichter der anderen und erkannte, dass sie alle dasselbe fühlten: eine rastlose Unruhe, ein endloses Wandern, das nie ein Ziel fand. Die Straßen würden weiterziehen, würden ihre Plätze wechseln, ihre Orte tauschen. Die Stadt würde leben, wie sie es immer getan hatte, und die Menschen würden weiter suchen, ohne je wirklich anzukommen.
Dona Clara hob den Blick und lächelte. Es war ein schwaches, zögerndes Lächeln, aber es war da. „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm“, sagte sie leise. „Vielleicht gehört es einfach dazu.“
Juana nickte und nahm einen Schluck aus der Tasse, die der Wirt vor sie gestellt hatte. Der Kaffee war kalt, doch der Geschmack war vertraut, ein Hauch von etwas Bekanntem, selbst wenn sie den Weg dorthin verloren hatte. Die Stadt mochte sich verändern, mochte wandern – aber in diesem Moment fühlte sie, dass sie nicht allein war. Und vielleicht, dachte sie, war das genug.
Deine Schreibmaschine im Schatten,
Nachts auf Papier
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