Zwischen den Rändern
Zwischen Traum und Wirklichkeit jagt ein alter Kartograph nach vergessenen Orten, doch je mehr er versucht, sie festzuhalten, desto schneller entgleiten sie ihm.
Der alte Kartograph saß am Fenster seines Turmzimmers, das wie ein einsames, wachendes Auge über die Dächer der Stadt ragte. Vor ihm lag die Welt in einem milchigen Dunst, ein unstetes Meer aus flimmernden Schatten und Lichtflecken, das sich nie ganz greifen ließ. Die Feder in seiner Hand kratzte über das Pergament, zögernd, als fürchte sie, die Linien, die sie zog, könnten jeden Moment wieder verschwinden. Striche bogen sich, wanderten ziellos, verloren sich in wellenartigen Formen, die keiner Küste folgten, und in verschlungenen Pfaden, die durch Wälder führten, die nur in seinen Träumen existierten. Orte, die auf keiner Karte zu finden waren, außer in den zerbrechlichen Schatten seiner Erinnerung, so vage, dass sie wie Nebel zwischen seinen Fingern zerrannen.
Er seufzte tief, ließ die Feder sinken und rieb sich müde die brennenden Augen. Es war ein täglicher Kampf gegen das Vergessen. Die Linien, die er zog, waren bloße Spuren flüchtiger Gedanken, Bilder, die ihm entglitten, je mehr er versuchte, sie festzuhalten. Seine Feder fühlte sich wie ein wertloses Werkzeug an, ungenau, kraftlos. Jeder Strich war ein verzweifelter Versuch, etwas zu fixieren, das sich unter seinem Blick ständig veränderte. Ein Ort, den er zu kennen glaubte, der ihm aber jedes Mal entglitt, je genauer er hinsah.
Der Kartograph beugte sich tief über das Pergament, seine Hand zitterte kaum merklich, als die Feder feine, zarte Linien über die glatte Oberfläche zog. Neben ihm lagen seine Werkzeuge, sorgfältig angeordnet, als wären sie Teil eines heiligen Rituals: der alte, abgenutzte Zirkel, mit dem er die Entfernungen maßstabgerecht auf das Papier übertrug, das knochenweiße Lineal, mit dem er die Küsten und Grenzverläufe scharf und präzise nachzeichnete, der Pantograph, dessen feingliedrige Arme die exakten Proportionen von älteren Karten übertragen sollten, der Protractor, mit dem er die genauen Winkel der Flüsse und Berge abmaß, und der Gradbogen, der ihm half, die steilen Winkel von Bergen und Tälern in exakten Schnitten zu erfassen.
Er begann mit den Meeren, ließ die Feder in weiten, geschmeidigen Bögen über das Papier fließen. Jeder Strich wirkte sanft, aber bestimmt, wie die Bewegung einer Welle, die über den Ozean gleitet. Mit dem Kartenzeichner, einer hauchdünnen Nadel, setzte er winzige Punkte entlang der Küstenlinie, die wie Anker die Strömungen und Untiefen markierten. Seine Hand bewegte sich ruhig, fast mechanisch, als das Instrument die Punkte mit der Präzision eines Chirurgen in das Papier stach und die Karte nach und nach zum Leben erweckte.
Dann wandte er sich den Bergen zu, nutzte den Zirkel, um die Höhe und Entfernung zu markieren, die Linien zogen sich schroff und zackig über das Pergament. Seine Hand folgte den Konturen, setzte kleine Schraffuren, um die Schatten der Gipfel einzufangen, doch nichts schien richtig. Ein kurzer Moment des Jubels – endlich hatte er die Form eines Gipfels erfasst, den er kannte – doch schon im nächsten Augenblick sah alles falsch aus, als ob die Berge sich unter seinem Blick veränderten.
„Warum bleibt ihr nicht, wie ich euch erinnere?“ flüsterte er heiser, fast flehend, während seine Finger über das Pergament glitten, als könnte er die Orte damit zurückrufen. „Ihr wart da, ich weiß, dass ihr da wart… aber jetzt… nur noch windende Linien, die mich verhöhnen.“ Seine Hand bewegte sich rastlos weiter, die Flüsse kamen an die Reihe, ihre sanften Windungen kaum mehr als verschwommene Schatten in seinem Gedächtnis. Er griff zum halbmondförmigen Protractor, ließ ihn über das Papier gleiten, um die Biegungen der Flüsse auszumessen, doch die zarten Linien, die seine Feder zog, zitterten, als würden sie aus dünnen Erinnerungsfäden gesponnen, bereit, jederzeit zu reißen.
Als er die Städte benannte, flüsterte er die Namen wie ein Beschwörer, prüfend, beinahe flehend, als könnten diese Worte die Orte zurückholen, die ihm entglitten. Die Straßen und Türme entstanden in feinen, fragilen Strichen, und der Pantograph entfaltete sich vor ihm, seine metallenen Arme wie die eines mechanischen Kraken, der alte Fragmente von Karten übertrug, die noch irgendwie relevant schienen. Doch nichts hielt. Jeder Name, jeder Platz, den er markierte, drehte sich schon im nächsten Moment in eine fremde, verzerrte Gestalt, als hätten die Linien ihren eigenen Willen, unfähig, sich bändigen zu lassen.
Die Glocken der Stadt schlugen zur vollen Stunde. Erschrocken bemerkte er, dass er noch immer im Nachtanzug war. Hastig riss er sich die Kleider vom Leib, zog frische an und fuhr sich mit nassen Händen durch die zerzausten Haare, bis sie einigermaßen glatt lagen. Ein Hauch Parfüm – mehr Zeit blieb nicht. Er griff nach seinem Mantel und stürmte die enge, gewundene Treppe hinab, die sich wie eine Spirale durch den Turm wand. Der Nebel kroch zwischen den Häusern, schwer und feucht, das Pflaster glänzte rutschig unter seinen Füßen. Der Kartograph setzte breite, entschlossene Schritte, seine Stiefel klatschten laut auf den Boden. Jeder Schritt entfernte ihn mehr von seiner Arbeit und er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder beunruhigte.
Er traf die Matriarchin in einem kleinen, versteckten Café, das sich in einer Gasse versteckte, die schwer zu finden war, in der verwinkelten alten Stadt. Sie saß bereits da, ruhig, fast reglos, mit der Eleganz und Gelassenheit einer Person, die Raum und Zeit unter Kontrolle zu haben schien. Ihr Blick war klar, durchdringend, ihre Hände ruhten leicht auf dem Tisch, als hätten sie alles im Griff. Sie wusste immer, wohin die Reise führte – anders als er.
„Rudolfo, du siehst müde aus“, sagte sie, als er sich schwer auf den Stuhl sinken ließ. Ihre Augen musterten ihn mit einer Klarheit, die ihn sofort unruhig machte.
„Es sind die Karten, Philomena“, murmelte er. „Sie... sie verschwinden. Ich kann sie nicht halten. Die Orte... sie sind da, aber nicht wirklich. Meine Feder ist nutzlos, ein stumpfes Werkzeug. Die Linien... sie kommen und gehen, wie Nebel. Ich weiß, dass sie da sind, aber...“ Er verstummte, die letzten Worte versickerten in der Stille.
Seraphina lächelte leicht, fast mitleidig. „Du suchst das Unmögliche. Du kannst nichts festhalten, was nicht bleiben will.“
„Ich muss es aber tun,“ widersprach er. Der Zwang lag in seiner Stimme, der ihn auch jeden Tag zurück zum leeren Pergament trieb. „Es ist wie ein Echo, das ich höre, aber nicht zu fassen kriege. Es ist da und gleichzeitig nicht. Die Linien sind flüchtig, sie... verschwimmen vor meinen Augen, und trotzdem... trotzdem muss ich sie zeichnen.“
Sie sah ihn einen Moment stumm an. „Und was, wenn du es lässt? Wenn du aufhörst, Orte zu zeichnen, die nie existierten?“
Seine Finger zitterten leicht, als er sie ineinander verschränkte. „Dann bin ich nicht fertig geworden,“ sagte er, fast tonlos.
„Mit was fertig?“, fragte sie ruhig.
Er hob den Kopf, doch sein Blick wich ihrem aus, wanderte zur Mauer hinter ihr, als könnte er dort Halt finden. „Mit meinem Leben,“ murmelte er schließlich, die Worte schwer und rau, als würden sie aus einem verborgenen, dunklen Ort in ihm kommen. „Dann habe ich nichts erreicht, bevor ich sterbe.“ Die Laute kamen stockend, als müssten sie durch einen engen, blockierten Weg in ihm hindurch. „Seit meiner Jugend verfolgt mich diese Angst,“ fuhr er leiser fort, „diese Furcht, zu sterben, bevor ich es vollendet habe.“
Es kostete ihn Mühe, das zu sagen, und er wunderte sich sogleich, dass er es überhaupt ausgesprochen hatte. Eine Welle der Scham durchzuckte ihn – Scham darüber, so entblößt und unsicher vor dieser Frau zu sitzen, die so unerschütterlich in sich selbst ruhte. War es seine zunehmende Verwirrung, die seine Angst so unerbittlich hervordrängte? Oder war es einfach die Nähe des Endes, die er immer deutlicher spürte, als würde die Zeit selbst an ihm zerren, sich durch ihn fressen, Stück für Stück, unaufhaltsam wie Sand, der durch die Finger rieselt?
Die Matriarchin lehnte sich leicht vor, ihr Blick blieb sanft. „Weißt du denn, was genau du vollenden willst?“
Er zögerte. Eine Karte, dachte er. Wenigstens eine einzige, eine echte Karte aus Aetherum, die das Verborgene sichtbar machte, das Unfassbare bändigte. Etwas Großes, Bedeutendes, das die Zeit überdauern würde. Doch nichts, was er je geschaffen hatte, war gut genug. Immer fehlte etwas. Nichts war abgeschlossen, alles blieb unvollendet. Die Worte schwebten an der Schwelle seiner Gedanken, doch er brachte sie nicht über die Lippen. Sie würde ihn für verrückt halten. Stattdessen sagte er ausweichend: „Ich bin ein Kartograph. Karten sind mein Lebenswerk.“
„Aber dann bist du doch schon fertig,“ erwiderte sie ohne Zögern, ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du bist Kartograph und zeichnest Karten. Fertig.“
Er sah sie verständnislos an.
„Aber da ist dieses brennende Gefühl,“ begann er stockend, seine Stimme brüchig. „Dass, wenn ich nichts vollende, das mich überdauert…“ Seine Kehle schnürte sich zusammen. „Dann… dann überkommt mich einfach diese schreckliche Angst.“
Mit einem sanften Lächeln griff sie nach seiner Hand, ihre Finger legten sich ruhig und fest um seine. Ihre Berührung war warm, das Licht im Café dämmerig und weich, als wäre die Zeit für einen Moment stehen geblieben.
„Interessant,“ sagte sie leise, „wie man so sehr mit Gestern oder Morgen beschäftigt ist, dass man den Kaffee vor sich vergisst.“ Ihr Blick glitt zur Tasse, die unbeachtet vor ihm stand. Er folgte ihrem Blick, als die Erkenntnis langsam in ihm einsickerte, und legte seine Hand auf die kalte Keramik, als könne er die verlorene Wärme zurückholen. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, aber es verschwand so schnell, wie es gekommen war.
„Komm mich doch bald mal im Wald besuchen, Rudolfo“ fuhr sie fort, ohne den Druck seiner Hand zu lösen. „Das pustet dir frische Luft in den Kopf.“
Er nickte zögernd. „Wenn ich es mit meiner Arbeit vereinbaren kann, Philomena“ antwortete er, obwohl er genau wusste, dass er nicht hingehen würde.
„Ich muss dann auch wieder los,“ fügte er hinzu und zog seine Hand aus ihrer.
Sie verabschiedeten sich, und er kehrte zurück in seinen Turm. Die Gassen lagen still, die Stadt war immer noch in Nebel gehüllt, und das leise Echo der Glocken hallte nach. Er spürte die Last, die auf ihm lag, als er die Stufen wieder hinaufstieg, zurück zu seinem Turmzimmer, zurück zu den unfertigen Karten.
Er setzte sich an seinen Tisch, griff nach der Feder und begann erneut, die Linien zu ziehen. Strich um Strich, zaghaft, verzweifelt. Jeder Strich ein Versuch, das zu fassen, was ihm entglitt. Er wusste, dass es sinnlos war, dass die Feder nicht in der Lage sein würde, das festzuhalten, was sich ihm entwand. Doch er konnte nicht aufhören. Der Drang, weiterzuzeichnen, war stärker als jede Vernunft, stärker als die Worte, die Philomena ihm zugeflüstert hatte. Aufhören? Wenn er aufhörte, war alles umsonst gewesen.
Der Kartograph blickte hinaus in die Dämmerung, die sich wie ein schwerer Vorhang über die Stadt legte. In seinem Kopf überlagerten sich die Linien der Karten mit den echten Straßen und Gassen die er vor sich sah, als würden beide Welten miteinander verschmelzen. Er war kein Kartograph, der zeichnete, um die Realität zu erfassen – er versuchte, sich zu erinnern, auch wenn die Erinnerungen wie Sand durch seine Finger rieselten.
Die Nacht hatte sich über die Stadt gesenkt, ihre Dunkelheit undurchdringlich. Der letzte Funke Erinnerung war ihm entglitten. Er stieß einen langen, müden Seufzer aus, zog mechanisch den Nachtanzug über seine erschöpften Glieder und schleuderte die unfertige Karte auf den immer größer werdenden Stapel gescheiterter Versuche in der Ecke.
Er fiel ins Bett und gab sich dem Schlaf hin. Und mit ihm kamen die Träume – Träume, die ihn zurück nach Aetherum zogen, zu jenem Geheimnis, das ihm immer wieder durch die Finger glitt, egal wie verzweifelt er versuchte, es auf Pergament zu bannen. Die Bilder, lebendig und klar im Schlaf, würden mit den ersten Strahlen des Tages zerfallen, lange bevor seine Feder sie fassen könnte. Doch das Verlangen brannte weiter, unaufhaltsam. Der Zwang, etwas zu erschaffen, das größer war als er selbst, ließ ihn nicht los.
Und so würde er auch am nächsten Morgen taumelnd aus dem Bett stolpern, getrieben von einer inneren Unruhe, zum Schreibtisch eilen, die Feder packen und sich fieberhaft über ein neues Stück Pergament beugen. Er würde die flüchtigen Linien jagen, bevor sie ihm erneut entglitten – immer wieder, als wäre jeder Versuch die letzte Möglichkeit, das Unfassbare zu greifen. Immer und immer wieder.
Mit fantastischen Grüßen verabschiede ich mich in einen zweiwöchigen Urlaub und freue mich auf ein Wiederlesen im November,
deine Schreibmaschine im Dunkeln,
Nachts auf Papier